Deutsche Türkei Zeitung

Türkei stimmt über Verfassung ab

Am kommenden Sonntag stimmen die türkischen Bürger über ein Paket von Verfassungsänderungen ab. Initiiert wurde das Reformpaket von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo an. Im Frühjahr verfehlte die AKP im Parlament die notwendige Zweidrittelmehrheit für die angestrebte Änderung der Verfassung. Nun hat die Bevölkerung das letzte Wort. Die meisten Meinungsumfragen sagen eine knappe Annahme der Vorlage voraus. Besonders zuverlässig sind Umfragen in der Türkei aber nicht.

Worüber wird am Sonntag abgestimmt?

Das Reformpaket besteht aus zwei Teilen, wobei die Wähler nur über das Gesamtpaket, nicht aber über einzelne Teile, abstimmen können. Der erste und unumstrittene Teil zielt auf fundamentale Rechte und Freiheiten des Einzelnen gegenüber dem Staat. Vorgesehen ist auch eine verfassungsmässige Verankerung des Datenschutzes, eine Ausweitung der innerstaatlichen Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit, eine Stärkung gewerkschaftlicher Rechte und die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle für Klagen der Bürger gegenüber der Regierung.

Weit umstrittener ist der zweite Teil, der auf eine Reorganisation der Justiz abzielt. Dabei soll namentlich das Verfassungsgericht, das in den vergangenen Jahren wiederholt Reformen der AKP-Regierung blockiert hat, umgestaltet werden. Bei der Wahl der Verfassungsrichter, deren Zahl man von 11 auf 17 erhöhen will, soll das Parlament ein stärkeres Mitspracherecht erhalten. Bürger, die sich in ihren grundlegenden Rechten verletzt fühlen, sollen sich direkt an das Verfassungsgericht wenden können. Ferner soll der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte ein für Personalfragen und die disziplinarrechtliche Kontrolle der Justiz zuständiges Organ künftig aus einem grösseren Kreis von Juristen rekrutiert werden.

Auch im politisch heiklen Bereich der Militärjustiz sind Reformen geplant. Militärgerichte sollen künftig ausschliesslich für militärische Straftaten zuständig sein und nicht länger auch für kriminelle Handlungen gegen die Staatssicherheit und die verfassungsmässige Ordnung, etwa Putschversuche. Nichtmilitärische Personen könnten demnach nur noch in Kriegszeiten vor ein Militärgericht gestellt werden. Gegen Entscheidungen des Hohen Militärrates, Personen aus der Armee auszuschliessen (eine Massnahme, die in der Vergangenheit meist gegen vermeintliche Islamisten zielte), sollen künftig Rechtsmittel ergriffen werden können. Gestrichen wird zudem jener Gesetzesartikel, der die Rädelsführer des Militärputsches von 1980 vor einer Strafverfolgung schützt.

Die Gegner der Verfassungsreform sehen undemokratische Motive. Der islamisch-konservativen Regierungspartei, so der Vorwurf, gehe es nur darum, die regierungskritische Justiz enger an die Kandare zu nehmen und mit eigenen Leuten zu besetzen. Die Gewaltenteilung werde auf diese Weise ausgehebelt, der Türkei drohe gar eine Autokratie. Die kemalistisch geprägte Justiz wird er mit den vorgeschlagenen Verfassungskorrekturen aber nicht kontrollieren können.

Die AKP ist die einzige Befürworterin der Verfassungsänderung. Sowohl die grösste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), die sich als Vertreterin des alten säkularen Establishments und des Erbes Atatürks versteht, als auch die nationalistische MHP lehnen das Vorhaben ab. Die grösste kurdische Partei BDP konnte sich weder zu einem Ja noch zu einem Nein durchringen und rief daher zum Boykott des Referendums auf. (09.09.2010)